Verblichener Glanz

Spiegel




SPIEGEL: noch nie hat man wissend beschrieben,
was ihr in euerem Wesen seid.
Ihr, wie mit lauter Löchern von Sieben
erfüllten Zwischenräume der Zeit.

Ihr, noch des leeren Saales Verschwender - ,
wenn es dämmert, wie Wälder weit…
Und der Lüster geht wie ein Sechzehn-Ender
durch eure Unbetretbarkeit.

Manchmal seid ihr voll Malerei.
Einige scheinen in euch gegangen - ,
andere schicktet ihr scheu vorbei.

Aber die Schönste wird bleiben - , bis
drüben in ihre enthaltenen Wangen
eindrang der klare gelöste Narziß.

Rainer Maria Rilke

Sammelsurium

Dicke Bündel alter Briefe, das Papier vergilbt – schmachtende Ergüsse jugendlicher Verliebtheit; der Zirkelkasten aus der Grundstufe, den der Vater schon von seinem Vater erbte – und mit dessen Inhalt ich nie umgehen lernte; der alte Steuerbescheid, den ich dem Berater bei Anforderung als verloren melden mußte – zu spät; zwei nicht mehr zuordenbare Männerhemden – vermißt die irgend jemand?; das Hochzeitskleid der Mutter, aufgehoben aus sentimentalen Gründen – ein Traum in Mini aus Spitze und Satin; Disketten mit obsoleten Daten – die in keinen Computer mehr passen; Windelunterlagen für Babys von Freunden - die Kurzen drücken inzwischen die Schulbank; kleine Reisespiele - als Kind auf langen Autofahrten zum Urlaubsort wieder und wieder geknobelt; peinliche Fehlkäufe – nach Hause getragen und sofort versteckt; die 36 Jahre alte Puppe aus Plastik mit Klimperaugen – und später selbst gehäkeltem Jäckchen in Neongrün; ungetragene T-Shirts - die Freundinnen laut kürzlich durchlaufener Farbberatung stehen würden; zig Stifte - ungeschrieben; ein abgegriffenes Lesezeichen – Aufschrift: ‚Behind every successful women is a man who tried to stop her!’, verloren geglaubte Fotos – Bergung eines Schatzes; erotisches Spielzeug – Erinnerung an fast vergessene, aufregende Nächte; das best of selbst kreierter Kritzeleien - mit guten Wünschen der Kita-Tante; ein Fummel – mich einst zum Glamourgirl aufsteigen lassend; aussortierte Bücher – die den Weg zum Antiquar nie fanden; und hundert längst vergessene Kleinigkeiten.
Fundstücke, die eine banale Aktion zu Tage förderte – der neue Schrank mußte eingeräumt werden.
Was schnell erledigt werden sollte, wurde zum Tagwerk.
In Bruchstücken passiert das eigene Leben Revue. Einige davon zu wichtig, um sie zu ignorieren, einfach auszusortieren.

abstand

abstand

ein künstlicher platz in raum und zeit

Ephemere Archaik

Ephemer-1

Kälteklirrende Bruchstücke eines sich stetig wiederholenden Naturschauspiels – ihres Ursprungs beraubt.
16000 Jahre braucht das Eis, um vom Zentrum zum Rand des Vatnajökull Gletschers zu wandern. Tosend stürzt es dann vor der Südküste Islands ins Meer und mit ihm schmilzt erstarrte Zeit in den Fluten.
Sechs Tonnen dieser eisigen Vergänglichkeit hat Olafur Eliasson nach Berlin transportieren lassen und im Schauraum der Galerie Neugerriemschneider (Linienstraße 155) zu einer auratisch wirkenden Installation vereint.
Fröstelnd durchwandert der Besucher den von einem gewaltigen Aggregat auf minus sechs Grad gekühlten Raum.
Bläulich schimmert das Eis, dunkle Einschlüsse lassen die Gewalt der Natur gewahr werden.
„your waste of time“, so der Titel der Installation, spielt auf eindringliche Weise mit der Wahrnehmung des Wechselspiels von Natur und Technik. Die Laufzeit der Präsentation schiebt den natürlichen Wandel von Struktur und Aggregatzustand auf, verhindert ein Auflösen des Konkreten in der Masse.
Mit einer einfachen und gleichzeitig kühnen Idee schafft Olafur Eliasson Sinnlichkeit wie sie direkter nicht sein kann.
Und wenn in zwei Wochen das Kühlaggregat abgeschaltet wird, wird vergehen, was an diesem Ort nie wirklich war.

...

sonne schlägt meinen schatten ins pflaster
klirrend zerbrechen worte
ungehört

flash point

Läßt die Erinnerung den Traum nicht gehen, liegt er als dunkler Schatten über der Gegenwart ...

Das große Fressen

„Hunger“ schreien die Eingeweide graziler, kulturgesättigter Damen nach dem Theaterbesuch. „Kalt“ meldet die von zu dünnen Mänteln geprüfte Außentemperatur. „Nah“, befinden die Frierenden, muß die Nahrungsquelle sein.
Schlicht kommt das Buffet daher im Café. „Unbegrenzt“ beantwortet der Wirt die Frage nach maximal möglicher Kalorienaufnahme.
Genußsüchtig schreiten die beiden Damen zur Tat. Übervoll tragen sie ihre Teller zum Tisch. Schnell versinkt die erste Portion in ihren Mägen. Gierig beschaufeln sie die Teller erneut. Neugierig blickt der Wirt. Unbemerkt bleibt staunendes Stieren nächtlicher Cafébesucher ob solcher Berge zu verzehrtender Nahrungsmengen. Sinnenfreudig speisen die Damen. Panikartig füllt der Wirt auf was die Küche noch hergibt. Ungesättigt schreiten die Damen erneut zum Angriff. Leer sind die Teller in Sekundenschnelle. Unvermeidlich scheint ein vierter Gang. Angstvoll übt sich der Wirt in Zurückhaltung und Kopfrechnen. Unvereinbar für ihn die Vorstellung von Klischee und Realität: zierliche Damen mittlerer Größe und niederen Gewichts, somit anzunehmender Weise zurückhaltend bei reichhaltigen Nahrungsangeboten, plündern rücksichtslos sein Buffet. Mysteriös die Maßlosigkeit ihrer Mägen. Mitgezählte zehn Buletten, fünfzehn Scheiben Brot, fünf Eier, zwölf Scheiben Käse, fünfundzwanzig Scheiben Wurst, zwölf Stückchen Butter, vier Teller Suppe und neben anderen Kleinigkeiten mehr als dreißig Tomaten- und Gurkenstückchen werden sich unbezahlt auflösen in Magensäure. Hemmungsloses Schlingen bringt den Wirt schier zur Verzweiflung, die in-sich-hinein-Stopfenden zu sättigender Befriedigung. Schlachtfeldgleich das Buffet nach verlorenem Kampf.
Behaglichen Gefühls verlassen die Damen das Café, wunschlos in genau diesem Moment. Düster folgen ihnen die Augen des Wirts. Ernsthaft denkt er über einen neuen Preis für die angebotene, grenzenlose Schlemmerei nach.
Furchtsam hebt er den Blick, als die beiden Wochen später wieder durch seine Tür schreiten. Ungezwungen schmunzeln sie ihm ihr „wir speisten bereits“ zu. Entspannt lächelt der Wirt zurück und fordert auch fürderhin nur lumpige drei Euro fürs Buffet.

...

die violine
den regen begleitend
der tropfend
die sucht nach tiefe
spüren läßt

ESSEN, TRINKEN, GLÜCKLICH SEIN

Wer sich hiervon ein Stückchen abschneiden möchte,

Essen1

sollte dabei sein, wenn es sich Connaisseure geistiger und weltlicher Genüsse so richtig gut gehen lassen.

...

selbsterrichtete mauern
zerbrochen.
zersprochen. zerliebt.
nackt. blank.
gewollt.
schutzlose angst.

...

in der umarmung den freund spüren
gewesenes besiedelt neue sphären
wunden heilen schmerzvoll

Trügerischer Sommertag

In gleißendes Licht getaucht preist der farbenprächtige Garten seine Idylle.
Die Beobachterin notiert einen kleinen, vielleicht dreijährigen Jungen, der mit seinem Dreirad die Weiten des englischen Rasens pflügt. Am Gartentisch sitzt eine, mit ebenmäßigen Gesichtszügen gezeichnete, schöne Frau, vertieft in ein Buch. Ein kleines, dickes Mädchen kommt mit einem Springseil gelaufen.
Ungelenk ob seiner Körperfülle, die Normmaße einer Fünfjährigen weit übersteigend, versucht sich das Mädchen im Seilspringen. Wieder und wieder legt es das Seil vor sich auf den Boden, hüpft darüber. Schwungvolles Springen ist sein Ziel und will ihm partout nicht gelingen. Das Kind schimpft leise vor sich hin, die Mutter wendet ihm den Blick zu. „Soll ich dir zeigen wie’s geht“, fragt sie beherzt. Freudig bejahend schaut das dicke Mädchen erwartungsvoll zu seiner Mutter.
Die legt das Buch aufgeschlagen auf den Gartentisch und nähert sich, von Liebe, Mut und Angst getrieben, der Tochter.
Leichtfüßig schwingt sie das Seil, überspringt es behende und vielfach. Gebannt und bewundernd schaut das dicke Mädchen zur Mutter auf.
Seine Freude verdrängt was es auch sieht, aber nicht wahr haben will. Die geliebte Mutter versucht mit gespielter Leichtigkeit ihr Keuchen zu verbergen. Was sie nicht verstecken kann, ist ihr blau anlaufendes Gesicht.
Dumpfer Aufprall und schriller Schrei verschmelzen in einem Geräusch.
Die Beobachterin sieht die Mutter röchelnd im satten, grünen Gras liegen, das dicke Mädchen verzweifelt über sie gebeugt. Der kleine Junge pflügt mit seinem Dreirad den englischen Rasen eilig in Richtung der Frau.
Ein Mann betritt hastig die Szene. Vorwurfsvoll und grimmig blickt er auf das dicke Mädchen herab, das in Tränen aufgelöst neben seiner Mutter kniet. Er beginnt mit Mund-zu-Mund-Beatmung und Herzdruckmassage. Langsam kommt die Frau zu sich, ihr Blick sucht und trifft liebevoll den des weinenden dicken Mädchens.
Minuten später legt der Notarzt die Mutter auf eine Trage, die Tür des Wagens schließt sich, mit dem Fahrzeug scheint sich die Mutter für immer von dem dicken Mädchen zu entfernen.
Wochen, Monate wird sie im Krankenhaus liegen, werden Ärzte dubiose Diagnosen stellen.
Nie vergißt die Beobachterin den Blick des Vaters und hat ihm doch verziehen.

Unheimliche Bedrohung

„Willst du mit mir Pferdchen und Reiter spielen“, fragt die unbekannte Stimme als ich den Hörer abnehme. Angewidert und verunsichert stottere ich: „Wer ist denn da?“ Die Frage bleibt unbeantwortet. Ich lege auf.
Am nächsten Abend wiederholt sich ein ähnliches Szenario. Abermals vergällen mir obszöne Worte einer singsangartigen, leisen Männerstimme das Tagesende.
Wieder und wieder ruft ER an.
Bei jedem Telefonklingeln denke ich zuerst an IHN.
Irgendwann nehme ich nicht mehr ab. Auf dem Anrufbeantworter höre ich begehrende Wünsche, schweres Atmen, befreiende Samenergüsse.
Angst kriecht in mir hoch. ER wird zur Bedrohung. Was weiß ER über mich, was will ER, wie weit ist ER bereit zu gehen?
Als ich eines Abends aus dem Fenster schaue, steht ein Mann an der Straßenecke. Er schaut zu mir. Schaut ER mich an? Ich verfalle in Panik, kante einen Stuhl unter die Türklinke der Hochparterrewohung. Nachts ist ER Herr wilder Albträume, tags bin ich Verfolgte.
ER fängt an mein Leben zu bestimmen.
Verzweifeltes Kundtun meiner Leidensgeschichte zeitigt Mitgefühl und Ratschläge. Das kräftige Blasen einer Trillerpfeife beim nächsten Anruf bleibt erfolglos.
ER ruft wieder an.
Freunde mit männlich kräftigen Stimmen nehmen mein Telefon ab.
ER ruft wieder an.
Ein Polizeibeamter hört seelenruhig meinem Vortrag zu und meint, ich solle wiederkommen, wenn mir wirklich etwas passiert sei. Entmutigt verlasse ich das Revier.
Wen habe ich brüskiert, wen verletzt, welchem Mann habe ich so weh getan, daß er mir das antut? Ich weiß es nicht.
ER ruft an. Wieder und wieder.
Inzwischen völlig neurotisch, starte ich einen letzten, verzweifelten Versuch SEINE Identität aufzudecken. Ausschlußverfahren. Ich stehe nicht im Telefonbuch. Wer hat IHM meine Nummer gegeben? Niemand im Freundes- und Bekanntenkreis bejaht die Frage. Bleibt das Arbeitsumfeld. Ich beginne die Menschen zu beobachten, die sich hier an Kunst delektieren. Welcher Mann besucht die gleiche Ausstellung wiederholt? Dann ist da eines Tages plötzlich dieses wohlbekannte, unheimliche Gefühl der Angst. Ich blicke mich um. Ein mir unbekannter Mann, klein, unscheinbar, Mitte vierzig, schaut mich an. Der nicht, denke ich.
ER ruft an.
Zwei Tage später ist der gutgekleidete Grauhaarige erneut da.
ER ruft wieder an.
Der Kleine schaut sich nochmals die Bilder an.
ER muß es sein, denke ich und bin mir nicht sicher. Die Angst, einen Unschuldigen zu verdächtigen, verhindert eine Reaktion, von der ich nicht mal weiß, wie sie sein sollte.
ER ruft an. Wieder und wieder.
Wochen später sitze ich in milder Sommernacht mit Freundin D. weinselig auf einer Caféterrasse. Aus dem Nichts erscheint der VERDÄCHTIGTE, ein Rad schiebend, vor dem Etablissement. Penibel sichert ER das Gefährt und nimmt am letzten freien Tisch Platz. Direkt neben uns. Ich tuschele Freundin D. den neuesten Stand der lästigen Geschichte zu. „Bist du sicher er ist es?“ fragt D. „Zu 90 Prozent“, antworte ich unsicher. „Dann mach’ ich DEM jetzt ein Ende“, raunt sie mir zu - mich im Ungewissen lassend was folgen sollte.
Selten habe ich D. so erlebt. Überlegen, weltgewandt und lasziv räkelt sich diese wunderbare Frau in Position und skandiert: „Ach, dieser Kleine hier am Nachbartisch? Der belästigt dich seit Monaten sexuell am Telefon? Klarer Napoleonkomplex. Guck ihn dir an: der kriegt doch sonst niemals einen hoch!“
Peinliche Stille fällt über die Terrasse. Verschämte Blicke, Grinsen, gezieltes Stieren, kurz darauf lautes Lachen. Versteinert klebe ich auf meinem Stuhl.
Der VERDÄCHTIGTE schreckt hoch. Hastig steht er auf, entsichert sein Fahrrad und radelt verkrampft in die Nacht.
Nie wieder hat ER mich angerufen.
Epilog: Eine Mitarbeiterin beichtete mir später, sie hätte diesem ‚netten Herren’, der vorgab ein Freund von mir zu sein, meine Telefonnummer verraten.

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Meinungen

sie haben doch nicht...
das reisefieber und die fotolust "kurriert"? ich vermiss...
Ranunkelchen - 27. Mai, 23:14
auch von mir....
... alles gute nachträglich.
Doro (Gast) - 10. Mär, 17:13
hab lieben dank!
Paula notes - 8. Mär, 23:03
herzlichen glückwunsch!...
schneck08 - 6. Mär, 00:04
ich selbst
kanns aus 9monatiger eigener abstinenz nur empfehlen!...
ranunkelchen (Gast) - 12. Okt, 21:35
ja, sicher
und fern und scheinbar nicht erreichbar. aber für mich...
Paula notes - 6. Sep, 01:12
der nachthimmel hat's...
der nachthimmel hat's gut.
schneck08 - 5. Sep, 10:14

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Zuletzt aktualisiert: 15. Apr, 10:03

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